Zur Startseite
Chinesische Rhetorik oder "Lehre vom Zurechtlegen der Worte"
   

Die Geschichte der chinesischen Rhetorik

Die Geschichte der modernen Xiucixue beginnt in Japan. Ende des 19. Jahrhunderts prägen die Japaner den Terminus "Shujigaku" als Übersetzung des griechischen Worts "Rhetorik". Zur Verschriftung verwenden sie chinesische Schriftzeichen und zwar solche, die sich im Kommentar zum Buch der Wandlungen (Yijing) finden, ein Kommentar, der lange Zeit als von Konfuzius verfasst galt, so dass sich mit ihnen eine besondere historische Bedeutung und Autorität verbindet. Shujigaku wird japanisch 修辞学 geschrieben. Es sind die beiden ersten Schriftzeichen – 修辞 ist die vereinfachte Schreibweise von 修辭 –, die dem Kommentar entstammen. Die Chinesen haben das Wort von den Japanern zur Zeit der Vierten-Mai-Bewegung um 1919 zurückübernommen. Chinesisch wird es "Xiucixue" ausgesprochen.

Als Gründungsvater der chinesischen Xiucixue gilt Chen Wangdao (1890-1977), der in Japan Rhetorik studiert hat, mit seinem 1932 erschienen Grundriss zur Lehre vom Zurechtlegen der Worte. Sein Grundriss liegt vermittelt über die Xiucixue von Huang Qingxuan, einem Werk, das Jahrzehnte später entstanden ist, sich an Chen Wangdao orientiert, und von den Textbeispielen her weit eher in die moderne Jetztzeit hereinreicht, der kommenden Erörterung zugrunde. In dem Grundriss versucht Chen Wangdao, die Vielzahl von poetologischen Termini und Theorien, die sich auf die Formulierungsmöglichkeiten im Chinesischen beziehen, und welche die chinesischen Literaturtheoretiker im Lauf der Jahrhunderte autochthon entwickelt haben, zu sichten und zu erfassen, und in die Einheit einer wissenschaftlichen Systematik zu bringen. An diesem Werk sind die meisten der Xiucixue-Bücher, von denen es in China heute eine unübersehbare Vielzahl gibt, orientiert.

Da sich die Systematik von Chen Wangdao wesentlich am System der abendländischen Rhetorik orientiert, kommt es zu einer Vereinigung von drei Traditionen: von griechisch-römisch-mittelalterlicher Rhetorik, chinesischer Poetik und chinesischem Konfuzianismus.

Die japanischen Gelehrten hatten sich mit der von Aristoteles, Cicero und Quintilian geprägten Rhetorik auseinandergesetzt und fanden ein systematisches Lehrsystem der Sprachphänomene vor, ein System, das bei den Sophisten ihren Anfang genommen hatte und dem einheitlichen Zweck diente, mit allen Mitteln, Vernunft- wie Beweggründen, zu überreden. Da die Rhetorik nicht nur eine Anleitung zum Reden, sondern zugleich eine zum Schreiben bot – die Reden wurden nicht selten bis ins kleinste Detail schriftlich vorgefertigt und Wort für Wort auswendig gelernt – so befand sich die Rhetorik von ihrem Beginn an in der Nähe zur Dichtungslehre, zur Poetik.

Die Chinesen konnten Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine ausgeprägte poetische "Figuren"-Lehre zurückblicken, die sich mühelos mit der rhetorischen Figuren-Lehre griechischen Ursprungs gleichsetzen ließ. In Liu Xies Literarische Gesinnung und das Schnitzen von Drachen (Wenxin diaolong), das um 500 nach Christus entstanden ist, werden beispielsweise das "Duiou", "Piyu" und "Kuashi" behandelt.1 In der Rhetorik entsprechen ihnen das "Isokolon", die "Similitudo" und die "Hyperbole".2 So konnten sie sich an den Systematisierung und der theoretischen Behandlungsweise der Rhetoriken orientieren. Den Zweck allerdings, das Ziel der Rhetorik, die Persuasion, konnten sie nicht übernehmen.

Dem Konfuzianismus gilt die Wahrhaftigkeit als ein Wert. Insbesondere die Sprache des Einzelnen soll wahrhaftig sein. Die Worte sollen die Dinge so beschreiben, wie sie sich dem Einzelnen präsentieren. Konfuzius fordert in den Gesprächen die "Rektifikation der Namen" (正名 zheng ming), das heißt, er fordert, dass die Worte mit den Sachen zur Übereinstimmung gebracht werden.3 Die Rhetorik hingegen fordert das Vermögen zur Verstellung. Simulation und Dissimulation stehen im Partei-Interesse. Der Rhetor wird angehalten, die Dinge so zu präsentieren, nicht wie sie sich ihm tatsächlich zeigen, sondern wie er glaubt, dass sie dargestellt werden müssen, um das Publikum für seinen Interessens-Standpunkt zu gewinnen. In dem Wort "Xiucixue" verbirgt sich konnotativ die Forderung nach Wahrhaftigkeit. Die Textstellte in dem Kommentar zum Yijing, welcher der Name entstammt, lautet:

"Der Edle fördert seine Tugendhaftigkeit und arbeitet an seinem Werk: er ist gewissenhaft und glaubwürdig, auf diese Weise fördert er die Tugendhaftigkeit; er arbeitet an den Worten [修辭 xiu ci] und errichtet seine Wahrhaftigkeit, auf diese Weise gibt er dem Werk Dauer." (Vgl. Kommentar zum "Buch der Wandlungen")

Wer die Lehren der Xiucixue annimmt und umsetzt, wird verpflichtet, stets ehrlich und aufrichtig zu sein. Dieses "Hypokrisie-Verbot" oder "Aufrichtigkeits-Gebot" wird ausdrücklich formuliert: "Das wichtigste Prinzip beim Sprachgebrauch ist die Aufrichtigkeit", heißt es in Huang Qingxuans Xiucixue.4 In der Tradition des Konfuzianismus konnte mithin kein rhetorisches System entstehen. Insofern Chen Wangdao dieser Tradition verhaftet war, musste auch er den persuasiven Zweck der Rhetorik ablehnen.

Das Herzstück der Xiucixue, die Lehre von den Wortzurechtlegemustern, korrespondiert mit dem elocutio-Teil der Rhetorik, in welchem die Formulierungsmöglichkeiten in Hinblick aus die rhetorische Psychagogie behandelt werden. Das immanente Ziel der Xiucixue ist es jedoch, die Formulierungsmöglichkeiten als solche unabhängig von dem Zweck, zu welchem sie gebraucht werden, zu betrachten.

Die Geschichtsbetrachtung um die Entstehung der modernen Xiucixue Anfang des 20. Jahrhunderts als eine systematische Lehre oder Wissenschaft ist wichtig, um sich zum einen das Verwirrspiel zu erklären, das um die Frage entstanden ist, ob die Xiucixue mit der uns vertrauten Rhetorik gleichzusetzen ist, wie es die häufig anzutreffende Übersetzung des Worts "Xiucixue" mit "Rhetorik" suggeriert. Und zum anderen, um sich die Traditionsstränge zu vergegenwärtigen, welche die Xiucixue geformt haben.

Vorweg ist es aber notwendig, sich klarzumachen, was die Xiucixue ist, um wessen Geschichte frau/man sich da eigentlich bemüht. Wenn die Gegenstandbestimmung anders ausfällt, dann fällt auch die Geschichtsbetrachtung anders aus.

Weiterführende Literatur:

  • ZHENG ZIYU, 1980: 鄭子瑜 Zheng Ziyu: 中國修辭學史稿 Zhongguo xiucixue shigao "Entwurf zur Geschichte der chinesischen Lehre vom Zurechtlegen der Worte" (Shanghai, Jiaoyu chubanshe 1984). [Taiwan-Ausgabe: Zheng Ziyu 鄭子瑜: 中國修辭學史 Zhongguo xiucixue shi "Geschichte der chinesischen Lehre vom Zurechtlegen der Worte" (Taibei, Wenshizhe chubanshe). Vgl. ZHANG ZHENHUA.]

  • ZHANG ZHENHUA, 1991: Zhang, Z.-H.: Chinesische und europäische Rhetorik. Ein Vergleich in Grundzügen (Frankfurt/Main, Lang, Diss.). [Im ersten Teil Geschichte der Xiucixue in Anlehnung an ZHENG ZIYU.]

  • RICHTER, 1986: Richter, H.: Terra incognita des Chinesischunterrichts: Sprachstilistik (xiucixue), in: Chun – Chinesischunterricht, Nr. 3.

1 Vgl. LIU XIE 1983 270 ff.

2 Vgl. LAUSBERG 359 ff./232 ff./299 f.

3 KONGZI 1985a 263, vgl. NEEDHAM II 9 f.

4 黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 2.